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Alma und der Semmering
 
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Alma und der Semmering

Im November 1910 verwirklichte Gustav Mahler mit Hilfe seines Schwiegervaters Carl Moll den schon längere Zeit gehegten Plan, außerhalb Wiens ein Grundstück zu erwerben, um dort eine Art Alterssitz errichten zu lassen. Außerhalb der kleinen Gemeinde Breitenstein am Semmering wurden sie fündig: „Der Mahler hat zugehört, der Moll hat es ausgesucht“, erinnerte sich Mahlers Tochter Anna. „Er hat gesagt: Das ist die Luft für ihn, und sie haben das Grundstück gekauft.“ Zwei Jahre nach Mahlers Tod ließ Alma im Sommer und Herbst 1913 dort ein Ferienhaus errichten - die so genannte Villa Mahler, die bis 1938 ihr zweiter Wohnsitz war.

Villa Mahler Breitenstein Villa Mahler Breitenstein
     
Die Villa in Breitenstein im Winter
 
Die Villa Mahler in Breitenstein am Semmering

Die baulichen Proportionen sowie das tief heruntergezogene Dach mit einer Lärchen-Schindel-Deckung verliehen der zweigeschossigen Villa Mahler den klobigen Charme einer amerikanischen Farm, die man eher in Texas als in den kühlen Höhen der österreichischen Alpen erwartet hätte. Der Komponist Ernst Krenek, Almas späterer Schwiegersohn, erinnerte sich: „Es hatte ringsherum große Veranden, die zum Schattenbaden einluden, zu diesem Zweck aber kaum brauchbar waren. Ihre hauptsächliche Wirkung bestand darin, dass sie die angrenzenden Räume dunkel und trübsinnig machten.“

 
Die Villa Mahler in Breitenstein am Semmering

Die Lage war einmalig; am Kreuzbergrücken - einer sanft gekrümmten Erhebung zwischen dem Semmeringpass und dem felsigen Rax-Gebirge - hatte man einen freien Blick auf den gut 2000 Meter hohen Schneeberg. Das Ferienhaus war ungewöhnlich: "Ich hatte dem Baumeister gesagt, 'Bauen Sie mir ein Haus um einen Riesenkamin'. Er nahm es wörtlich - und brach die größten Blöcke aus unseren Bergen dort und formte einen übergroßen Kamin, der mit der Steinwandung die ganze Langseite des Zimmers ausfüllte."

Alma und Oskar Kokoschka

     
Oskar Kokoschka (liegend) mit Peter Altenberg und Adolf Loos am Semmering (1911)
 
Oskar Kokoschka (links) mit Egon Friedell und Peter Altenberg vor dem Hotel Panhans am Semmering (1912)


Bevor Alma ihr neues Refugium im Dezember bezog, malte Almas Geliebter Oskar Kokoschka ein vier Meter breites Fresko über den Kamin: "mich zeigend, wie ich in gespensterhafter Helligkeit zum Himmel weise, während er in der Hölle stehend von Tod und Schlangen umwuchert schien. Das Ganze ist auf der Idee der Flammenfortsetzung vom Kamin gedacht. Mein kleines Gucki stand daneben und sagte: 'Ja, kannst Du denn gar nichts andres malen als die Mami?'

»Wunderbares Haus, herrlich gelegen. Mahler hat den Grund gekauft, starb bald darauf. Seit 1914 steht es. Das Fresko über den Kamin, von Kokoschka gemalt  (nicht schön, zum Teil interessant, aber irgendwie bösartig) – Almas früherem Geliebten. Alma spielt im gleichen Zimmer Stellen aus ›Lied von der Erde‹ – , Werfel versucht zu singen  (ihr jetziger Geliebter). – Das Kind von Gropius  (dem jetzigen Mann von Alma)  hört zu. All dies wirkt eher elementar als meskin, durch Alma’s Erscheinung und Wesen.«  (Arthur Schnitzler, Tagebuch, 11. August 1919)

Die ersten Wochen in Breitenstein waren wolkenlos schön, in jedem Zimmer wurde gearbeitet, Vorhänge auf der Maschine genäht und aufgehängt etc. "Meine Mutter kochte in der Küche, am Abend saß man um den Kamin, las vor oder musizierte - kurz, es war die reine Zeit eines Aufbaues. Furchtbar wurde sie unterbrochen durch die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgerpaares und der Drohung Österreichs an Serbien. Kokoschka wird bald zum Militär eingezogen. Alles war zu Ende."

Oskar Kokoschka Oskar Kokoschka
     
Das Fresko von Oskar Kokoschka über dem Kamin
 
Oskar Kokoschka

Im Frühjahr 1914 nahmen die Spannungen zwischen Alma und Kokoschka wieder zu, vor allem weil sich seine pathologische Eifersucht ins Unerträgliche steigerte. Immer wieder machte er ihr schwere Vorwürfe, sie umgebe sich mit falschen Freunden - „Gestaltungen, die sich verändern, wenn sie warm an Dich schleichen.“ Alma zog sich mehr und mehr von Kokoschka zurück. Anfang März flüchtete sie mit ihrer Freundin Lilly Lieser nach Paris.

Mit Ausbruch des Weltkrieges in den ersten Augusttagen 1914 begann die letzte Phase der Beziehung zwischen Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Alma hatte bereits im Mai ihre Wiener Wohnung in der Pokornygasse aufgelöst und sich in ihr Haus nach Breitenstein zurückgezogen. Dort, in der Abgeschiedenheit der österreichischen Berge, überfiel sie quälende Langeweile. "Ich bilde mir manchmal ein", schrieb sie in ihr Tagebuch, "ich habe diesen ganzen Weltbrand entfacht, um irgend eine Entwicklung oder Bereicherung zu erfahren - und wäre es auch der Tod."

 
Oskar Kokoschka: Stillleben mit Putto und Kaninchen  (1914). Das rote Haus im Hintergrund ist Almas gerade fertig gestellte Villa in Breitenstein am Semmering. Das Bild zeigt das nahende Ende der Beziehung zwischen Alma und Kokoschka an.

Anfang Dezember 1914 erfuhr Kokoschka von seiner bevorstehenden Einberufung zum Militär. „Da ich wehrpflichtig war“, erinnert er sich, „war es angezeigt, dass ich mich als Kriegsfreiwilliger meldete, bevor ich gezwungen wurde, mitzutun.“ Das war allerdings nur die offizielle Version. Anna Mahler wusste später zu berichten, dass ihre Mutter an seiner Entscheidung nicht ganz unbeteiligt war: „Die Alma hat den Kokoschka so lange einen Feigling genannt, bis er sich schließlich 'freiwillig' zum Kriegsdienst gemeldet hat. Kokoschka wollte keinesfalls in den Krieg, sie aber hatte schon genug von ihm, er war ihr schon zu anstrengend geworden.“

Kokoschka muss zu diesem Zeitpunkt sehr verzweifelt gewesen sein, wenn er die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs als einzigen Ausweg aus seiner hoffnungslosen Verbindung zu Alma sah. Er wollte „solange im Feuer sein“, schrieb er ihr, „bis alles böse von mir heruntergegangen ist.“ Auf Vermittlung seines Freundes Adolf Loos wurde Kokoschka im Dragonerregiment Nr. 15, dem vornehmsten Reiterregiment der Monarchie, untergebracht. Dass er das für diese Elitetruppe benötigte Pferd ausgerechnet durch den Verkauf seiner „Windsbraut“ erwarb, just jenes Gemäldes, das ihn und Alma eng umschlungen darstellt, verleiht der Geschichte einen wehmütigen Unterton.

   
Walter Gropius an der Front im Ersten Weltkrieg  
 

Den Jahreswechsel 1914/15 verbrachten Alma und Kokoschka trotz aller Differenzen gemeinsam in Breitenstein am Semmering. Offensichtlich hatten sie nach längerer Zeit wieder einmal in der Silvesternacht miteinander geschlafen - in einem Brief bedankte sich Kokoschka zwei Tage später dafür, dass sie ihn „unvergesslich schön und unvergesslich erhaben“ in ihr Bett gezogen habe. Aber die Annäherung war, zumindest von Almas Seite aus, nicht echt, denn noch in der gleichen Nacht schrieb sie einen sehnsuchtsvollen Brief an Walter Gropius. "Ich wünsche Dir, dass Du wohl aus der Schlacht zurückkehrst, alles andere wird Dir Deine liebe schöne Natur selber anziehen, da brauche ich nicht weiter zu wünschen." Möglicherweise schlief Kokoschka gerade in ihrem Bett, als sie über ihre Einsamkeit klagte. "Wird die Zeit kommen, in der ich Dich hierher führen darf - hierher, wo Du mit Deinen Schritten mir den Boden abgemessen hast. Ich drücke Deine Hände. Alma."

Als Walter Gropius sie einmal arglos in einem Brief fragte, wie es um den Ausbau der Veranda in Breitenstein bestellt sei, wofür er Entwürfe angefertigt hatte, reagierte sie völlig überzogen. "Dies schreibt ein 'Architect' oder einer der es gerne vorstellen möchte seiner schwangeren Frau - während des Krieges - deren Haus 1000 m hoch liegt. Da steht mir der Verstand still. [...] So lieb Deine Briefe waren - hat mich das doch so empört, dass ich respectlos an Dich denken muß. Diese Besonnenheit ist etwas was ich von Dir verlange! Sonst hätte ich ja gleich einen deutschen Lyriker heiraten können, so ein Wolkenschaf. - Schreibe mir, ob ich nicht noch wieder eine Taglöhnerarbeit für Dich verrichten darf? - Vielleicht den Umbau des Hausmeisterhauses???"

Werfel in Breitenstein - Almas Frühgeburt
Im Jahr 1918 kam es in Almas Haus in Breitenstein zu der aus
Werfels Tagebuch bekannten Affäre im Zuge derer die hochschwangere und von einer Blutung gequälte Alma ins Spital nach Wien gebracht werden musste und Werfel sich auf dem Weg zu einem Arzt in einem Sumpf verirrte.

Als Franz Werfel Ende März 1918 in Wien eintraf, war Alma bereits im dritten Monat schwanger. Zunächst wusste sie nicht genau, wer der Vater des Kindes war. Sie hoffte, dass die Zeugung im Januar nach einem Mahler-Konzert, das sie mit Werfel besucht hatte, stattgefunden hätte und nicht Ende Dezember, als Walter Gropius seinen Weihnachtsurlaub bei ihr verbracht hatte.

Die ohnehin vertrackte Situation wurde noch komplizierter, als sich Gropius nach einer schweren Verwundung in ein Kriegslazarett nach Wien verlegen ließ und somit in die Nähe seiner schwangeren Frau rückte. Alma war also, da sie ihre Untreue weiterhin verheimlichen wollte, gezwungen, Gropius das Gefühl zu geben, das Kind sei von ihm.

Franz Werfel Alma Mahler und Franz Werfel
     
Werfel als Bergsteiger
 
Alma mit Franz Werfel und Schulli in Breitenstein

Die Schwangerschaft verlief problemlos, in Breitenstein, wohin Alma, mit ihren Töchtern Anna und Manon im Sommer übersiedelten, machte sich allerdings die kriegsbedingte Mangelwirtschaft bemerkbar. Außer alten Saatkartoffeln, Polenta, billigem Fleischersatz und verschiedenen Pilzen gab es nichts zu essen.

Ende Juli reiste Franz Werfel auf den Semmering: "Werfel und ich lebten unseren Rausch weiter und kümmerten uns leider wenig um das Werdende in mir. Vollkommen leichtfertig und besoffen lebten wir dahin." Doch ihre Ungestörtheit wurde bald beendet. Emmy Redlich, die reiche Ehefrau des Zuckerfabrikanten Fritz Redlich, und ihre 18-jährige Tochter hatten ebenfalls ihren Besuch angekündigt, und so war das Liebespaar auf Diskretion bedacht. In der Nacht vom 27. zum 28. Juli 1918 kam es zur Katastrophe. Nachdem Alma und Anna der lästigen Besucherin am Abend fast den gesamten zweiten Teil von Mahlers 8. Sinfonie auf dem Harmonium vorgespielt hatten, musste Alma Emmy Redlich noch bis tief in die Nacht unterhalten. Nachdem sie sich zur Ruhe begeben hatten, schlich Werfel zu seiner Geliebten. „Wir liebten uns!“, schrieb er wenige Tage später in sein Tagebuch. „Ich schonte sie nicht. Gegen Morgen ging ich in mein Zimmer zurück.“

Bei Tagesanbruch wachte Alma auf und fühlte sich unwohl: "Ich machte mit zitternden Händen Licht und sah, dass ich in einem Blutsee stand." Sofort läutete sie Sturm. Anna, Emmy und Maude, Almas englische Zofe, eilten herbei und fanden das Schlafzimmer wie nach einem furchtbaren Gemetzel vor. Franz Werfel wurde von Maude geweckt und gebeten, so schnell wie möglich einen Arzt zu holen. Er ahnte was geschehen war. Der leidenschaftliche Liebesakt hatte bei der schwangeren Alma heftige Blutungen ausgelöst. Noch völlig benommen rannte er über regennasse Felder und Wiesen zu einem Sanatorium, wo er den Dienst habenden Arzt aus dem Schlaf riss. Da der Doktor an Tuberkulose litt, konnte er nur sehr langsam gehen. Unterwegs trafen die Männer auf Anna, die ins Dorf lief, um Walter Gropius telefonisch zu benachrichtigen. Werfel schloss sich ihr an, während der Mediziner in der Villa Mahler eine eigenwillige Patientin vorfand. "Ich sah seine Fleischhauerhände", notierte Alma, "und verbat mir jede Berührung."

Werfel machte sich schwerste Vorwürfe und wollte bereits am Nachmittag Breitenstein verlassen. Auf dem Bahnhof beobachtete er unbemerkt, wie Walter Gropius in Begleitung eines bekannten Gynäkologieprofessors einem Militärzug entstieg. Nach einigem Hin und Her wurde Alma am 31. Juli nach Wien transportiert. Der Krieg machte die Überführung zu einem mühsamen Unternehmen, das letzte Stück musste die Kranke sogar in einem Leichenwagen zurücklegen. Im Sanatorium Löw angekommen, ausgerechnet dort, wo Gustav Mahler gestorben war, handelten die Ärzte schnell. Kind und Mutter konnten nur durch die Einleitung der Geburt gerettet werden.

   
Almas Sohn Martin Carl Johannes (fiktives Photo) kommt im Juli 1918 als Siebenmonatskind zur Welt. Martin ist von Anfang an schwächlich und kränklich und besitzt einen Wasserkopf, er stirbt mit nur zehn Monaten.  
   

In der Nacht vom 1. zum 2. August brachte Alma unter größten Schmerzen einen Jungen zur Welt. Walter Gropius war die ganze Zeit bei ihr, wähnte er sich doch als der Vater des Kindes. Franz Werfel war von den Sorgen um Alma und das Kind überwältigt. Als er endlich vom positiven Ausgang der Operation erfuhr, pries er Gott und schrieb seiner Geliebten einen hymnischen Brief.

„Heilige Mutter Du! Du bist das Herrlichste, das stärkste, mystischste, Göttinnenhafteste, das mir im Leben begegnet ist. In jedem Augenblick, in jeder Prüfung Deines Lebens bist Du Vollkommenheit.“

Ihrem wenig später verstorbenen Kind trauerte Alma in den folgenden Jahren besonders auf dem Semmering, dem Schauplatz des Unglücks, nach: "Wie immer überfällt mich plötzlich die Traurigkeit und die Sehnsucht nach meinem kleinen Buben. Dieses Kind war für rnich das erwünschte - und das mußte in dieser schrecklichen Weise von uns gehen. Gott straft hart. (Juli 1924 Semmering)"

Fluchtberg Semmering
Im Juli 1917 findet sich in Almas Tagebuch eine Eintragung vom Fluchtberg Semmering, in der die Verfasserin eine feine Studie der Villenatmosphäre Breitensteins bietet: "Endlich bin ich befreit von den vielen Menschen. Es gewittert stark, und die Spannung der Atmosphäre tut mir weh. Manchmal glaube ich, daß alles vorbei ist, wenn ich aber meine kleine Manon ansehe, so weiß ich, daß ich noch notwendig bin. Nicht Anna Mahler - die braucht mich nicht mehr. Sie ist weise. Dieser Sommer war auf dem schönen Semmering etwas zu bevölkert. Diese einsamen Villen sind entweder das Ziel aller Ausflügler, oder ganz vereinsamt... Eine Mitte scheint es nicht zu geben.

Werfels Beteiligung an den revolutionären Ereignissen im November hatten 1918 zu einer Desillusionierung der Beziehung geführt, die die Verbindung sehr verändern sollte. Alma übernahm den dominanten Part, Werfel, noch unfertig und leicht beeinflussbar, übernahm die Rolle des Schwächeren und ließ sich, höchstwahrscheinlich nicht ungern, von ihr lenken.

Alma Mahler und Franz Werfel Alma Mahler
     
Alma und Franz Werfel in Breitenstein
 
Alma (1928)

Und so war Alma entschlossen, dem unsteten Kaffeehausleben Werfels ein Ende zu bereiten. Bei nächster Gelegenheit sollte er sich, wie sie entschied, für einen längeren Zeitraum allein nach Breitenstein in ihr Haus zurückziehen, um zu schreiben. Das Landhaus wurde zum Ort des Rückzugs für diszipliniertes Arbeiten einerseits und zum Schauplatz geselliger Begegnungen andererseits.

Von einem Besuch Hugo von Hofmannsthals im Hause Mahler ist in einer Schilderung der Gastgeberin dokumentiert: "Gestern kamen Hugo von Hofmannsthal und seine Frau zu uns auf den Semmering, und wir verbrachten zwei schöne Nachmittage und Abende. Für mich dadurch etwas erschwert, daß Manon Keuchhusten hatte und Hugo von Hofmannsthal äußerst lärrn empfindlich war. So nahm ich das Kind aus seinem Zimmer, das neben den Gastzimmern liegt, und Manon schlief in meinem Bett. Das heißt, wir schliefen beide nicht, da sie unentwegt schwere Anfälle hatte. Hugo von Hofmannsthal sprach ausschließlich von seinem neuen Drama "Der Turm" nach Calderon, das ihm sehr am Herzen lag. Er erklärte dessen Symbolik. Wir sprachen über den Begriff "Dichter" und in diesem Zusammenhang über Schnitzler und dessen Ausspruch über sich selbst, daß er kein Dichter, sondern ein Wissenschaftler sei. Es wurde als richtig empfunden. Dichter können nur von der Lyrik herkommen. Einer, der nie einen schönen Vers geschrieben habe, sei eben kein Dichter."

Alma Mahler und Franz Werfel Alma Mahler und Werfel und Hauptmann
     
Alma und Franz Werfel im Garten der Villa in Breitenstein am Semmering (1936)
 
Tafelrunde zu Ehren des Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann im Südbahnhotel (29. Januar 1932). Franz Werfel, Margarethe Hauptmann, Biograph Hans von Hülsen, Dramaturg Otto Zarek, Schriftsteller Ernst Lothar, Alma, Gerhart Hauptmann und die Schauspielerin Adrienne Gessner.

Für Alma waren die Nachkriegsjahre auf dem Semmering nicht ohne Sorgen und Probleme: "Der vergangene Sommer war der böseste, der mir je beschieden war (...) Mit wenig Geld also und fast ganz ohne Nahrung fretteten wir auf dem Semmering unser kärgliches Dasein. Die Bauern, die mich noch wenig kannten - da mein Haus erst um die Zeit des Kriegsausbruchs fertig geworden war - gaben nichts von dem ihren. So lebten wir von alten Saatkartoffeln, Polenta, Fleischersatz aus pulverisierter Birkenrinde und Schwämmen, die meine Tochter Anna täglich aus dem Walde brachte - alles in Kunstfett gebraten."

   
  Franz Werfel und Gerhart Hauptmann vor dem Südbahnhotel (1932).
   

1923 zog sich Franz Werfel nach dem Misserfolg seines Dramas "Schweiger" nervös und verunsichert Ende Januar nach Breitenstein zurück. Meterhohe Schneewehen schnitten das Bergdorf vom Rest der Welt ab und machten aus der Villa Mahler einen Ort freiwilliger Verbannung. Lustlos skizzierte Werfel iin Breitenstein ein neues Theaterstück, das er aber bald wieder beiseite schob. Er konnte sich nicht konzentrieren, woran Alma, die in Wien blieb, nicht ganz unschuldig war. Sie hatte nämlich ihren Freund Richard Specht ebenfalls auf den Semmering geschickt, um den umfangreichen Briefnachlass Gustav Mahlers zu sichten und zu ordnen. Der Musikwissenschaftler ging Werfel entsetzlich auf die Nerven, so dass Werfel seinen Aufenthalt vorzeitig beendete. „Meine Alma, erschrick nicht“, bat er sie, „Freitag komme ich zurück.“ Er machte sich Sorgen, wie Alma auf seine fluchtartige Heimkehr reagieren würde. „Ich habe Angst vor Dir“, gestand er ihr, „vor dem nach Wien Kommen.“ Offensichtlich waren seine Befürchtungen nicht ganz unbegründet, denn Alma scheint sich zu diesem Zeitpunkt emotional von ihm zurückgezogen zu haben:

"Werfel lieb aber gleichgültig. Manchmal plötzlich sinnestoll auf mich zu - aber nicht zärtlich. Das kennt er nicht. Das weiß er nicht." Und einige Wochen später schrieb sie in ihr Tagebuch: "Ach, ich liebe Werfel nicht mehr. Es ist entsetzlich diese Erkenntnis zu haben, 'verheiratet' zu sein, zusammen zu wohnen, zu leben. Gewohnheitsrechte - ja, Zwänge von beiden Seiten her. Ich bin sehr, sehr traurig."

Alma Mahler und Werfel und Hauptmann
 
Alma (2. von rechts) vor dem Südbahnhotel mit Ehemann Franz Werfel, Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann (Mitte) und Tochter Anna Mahler (vor ihm) (1932)

Eine lyrische Reminiszenz an sein Breitensteiner Zimmer ist Franz Werfels Gedicht "Er ist da":
Ein schwarzer Flügelschlag!
Vor dem Fenster singen die Fichten.
Ich springe auf in der Nacht.
Mit mir erhebt sich horchend das Zimmer,
Bett und Bücher und Tisch.
Ich fürchte mich nicht.
Herzklopfen bin ich, wild wie der Tod.
Ein Jauchzen in Tränen,
Wie ein Pferd bebt witternd das Haus.
Ein Donner von Licht schlägt ans Tor.
Weit und grell springt es auf.

 
Werfel 1928 Breitenstein Arbeitszimmer

Mahlers unvollendete 10. Symphonie
Im Hochsommer 1923 trafen Anna Mahler und ihr Ehemann, der Komponist Ernst Krenek aus Wien kommend in Breitenstein ein. Kurz zuvor hatten sie ihre Berliner Wohnung aufgegeben, um die zweite Jahreshälfte in Österreich zu verbringen. Da die jungen Leute knapp bei Kasse waren, bot sich die Villa Mahler als Sommerrefugium zunächst an.

Es war wohl in jenen Wochen, dass Alma Ernst Krenek auf ein Vorhaben aufmerksam machte, das ihm „wenig Befriedigung und viel Ärger bereiten sollte“. Er spielt damit auf Gustav Mahlers unveröffentlichte 10. Sinfonie an, die Alma - einem Rat Bruno Walters folgend - bislang vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten hatte. Nach Walters Ansicht war das Werk zu persönlich gefärbt, um es dem Publikum übergeben zu können. Jetzt - zwölf Jahre nach Mahlers Tod - wich Alma von ihrer damaligen Entscheidung ab. Als gewiefte Geschäftsfrau habe sie die Idee gehabt, erinnert sich Krenek, „Mahlers neun Symphonien eine zehnte hinzuzufügen, denn es schien ein einfaches Rechenexempel zu sein, dass zehn Symphonien in den Konzertprogrammen mehr bringen würden als neun“.

Ernst Krenek 10. Symphonie Gustav Mahler
     
Ernst Krenek
 
"Der Teufel tanzt" Ausschnitt aus der 10. Symphonie Gustav Mahlers

Bis heute ist allerdings die Frage ungeklärt, wer Alma auf die Möglichkeit aufmerksam machte, Mahlers letztes Werk zu verwerten. Möglicherweise war es der Musikwissenschaftler Richard Specht, der sich ja 1923 in Breitenstein mit Mahlers Briefnachlass beschäftigt, bei dieser Gelegenheit das Werk zu Gesicht bekommen und erkannt hatte, dass sich daraus etwas machen ließe. Alma entschied jedenfalls, dass Ernst Krenek aus dem Fragment eine in sich abgeschlossene Sinfonie erarbeiten sollte. Dieser fand das Projekt „damals schon widerwärtig“, fühlte sich jedoch so sehr „an den goldenen Käfig gekettet“, dass er nicht Nein sagen konnte.

Die Sinfonie sollte ursprünglich, wie Krenek feststellen konnte, fünf Sätze haben. Er entschied, dass er die Teile „Adagio“ und „Purgatorio“ edieren könne, die restlichen drei jedoch nicht anrühren würde: „Es hätte der schamlosen Kühnheit eines unsäglichen Barbaren bedurft, um den Versuch zu wagen, dieses leidenschaftliche Gekritzel eines sterbenden Genies zu orchestrieren. Alma war zutiefst enttäuscht und verstimmt, als ich ihr diesen Stand der Dinge erklärte. Ich freue mich, dass ich hart blieb und nicht einmal im Traum daran dachte, bei einer abscheulichen Betrügerei behilflich zu sein.“

Verdi - Roman der Oper
Während Krenek in Breitenstein die Arbeit an der Edition der Mahler-Sinfonie aufnahm, schrieb Franz Werfel dort unter höchster Anspannung an der Vollendung seines ersten großen Romans. Bereits im Jahr zuvor hatte Werfel den lange gehegten Plan ins Auge gefasst, dem von ihm seit Kindheitstagen verehrten Giuseppe Verdi ein Buch zu widmen. Wie im Rausch feilte Werfel bis zu zwölf Stunden täglich an der Geschichte seines Lieblingskomponisten. Alma unterstützte ihn in seinem Vorhaben und gab ihm regelmäßig Hinweise, „die darauf hinausliefen, dass das Buch so gut sein müsse, wie nur irgendeiner von 'diesen Klassikern', sich aber zugleich zum Verkauf an den Zeitungsständen der Bahnhöfe eignen solle“.

Alma war schon seit geraumer Zeit mit den Erträgen aus Werfels literarischer Arbeit unzufrieden. Zielsicher hatte sie erkannt, dass sich mit einem populären Roman mehr Geld verdienen lasse als mit expressionistischen Gedichten, Novellen und Erzählungen. Alma schreibt: "Der Sommer mit Franz Werfel war harmonisch, heiter, liebevoll ... Wir waren sehr einsam, hatten keine Gäste, in meinem lieben Haus allein... hatten wenig Geld und viele Bedürfnisse! Es war trotzdem viel schöner als irn Vorjahr. Und Franz Werfel hat nun einen großen Roman geschrieben. Der Roman ist "Verdi. Roman der Oper". Zweimal diesen Somrner ist Franz Werfel im Morgengrauen plötzlich in mein Zimmer gestürzt und hat mir das unfertige Manuskript zum Verbrennen aufge drängt. Ich behielt es natürlich, bis er sich wieder beruhigt hatte. Hof fentlich schlägt der Roman diesmal ein. Er braucht einen Erfolg." - "Den ganzen Sommer arbeitete er täglich ... im Dachraum, den ich ihm zu einem schönen Atelier umgestaItet habe. Er war dort vollkommen ungestört, und ich habe ihn verhätschelt wie ein Kind ... und jeden Abend wurde musiziert oder vorgelesen: Böhme oder Goethe oder auch Franz Werfels eigene Werke. So ist die Zeit selig dahingegangen, und ich kann nur eines fürchten, daß sich irgend etwas ändert."

Franz Werfel Franz Werfel und Paul von Zsolnay 10. Symphonie Gustav Mahler
         
Franz Werfels "Roman der Oper"
 
"Franz Werfel und Paul von Zsolnay
 
"Für dich leben! Für dic sterben! Almschi" Ausschnitt aus der 10. Symphonie Gustav Mahlers

Nun musste nur noch ein finanzkräftiger Partner gefunden werden, denn Kurt Wolff, Werfels Leipziger Verleger, konnte mit Almas Vorstellungen nicht mithalten. Dass auch Wolffs Privatvermögen im Zuge der Inflation dahin schmolz und er deshalb keine Gewinne mehr auszahlen konnte, ignorierte sie. Und so kam es ihr überaus gelegen, dass sich gerade jetzt ein junger Mann in Wien anschickte, einen neuen Verlag zu gründen.

Der 28-jährige Paul von Zsolnay war der älteste Sohn eines schwerreichen Großindustriellen. Die Familie hatte viel Geld im Tabakgeschäft verdient und gehörte zum Establishment der österreichischen Gesellschaft. Pauls Mutter Amanda (genannt Andy) war eine kunstsinnige Frau, die mit zahlreichen Künstlern und Intellektuellen verkehrte. Die Idee zu einem neuen Verlag entstand zufällig im Herbst 1923 bei einer Abendgesellschaft im Hause Zsolnay. Paul von Zsolnay war zunächst skeptisch, da er als studierter Kunstgärtner im Verlagsgeschäft völlig unerfahren war. Als Alma ihm jedoch kurzerhand den Verdi-Roman Franz Werfels anbot, schlug er ein. Werfels erster Roman wurde somit zum Grundstein des „Paul Zsolnay Verlages“.

Der junge Verleger war voller Tatendrang und hatte insbesondere für Alma stets ein offenes Ohr, so auch für ihren Vorschlag, eine Ausgabe mit Briefen Gustav Mahlers in das erste Verlagsprogramm aufzunehmen. Zwischen Weihnachten und Neujahr fuhren Alma und Franz Werfel auf das Zsolnaysche Familiengut, um die nötigen Details zu besprechen. Die frischgebackene Herausgeberin, die vertragsgemäß vom Verleger persönlich betreut wurde, kam in den Genuss großzügiger Sonderrechte. Bei einem berechneten Ladenpreis von 140.000 Kronen erhielt sie 20.000 Kronen, also gut 14 Prozent pro Buch. Selbst bei einer deutlichen Senkung des Preises stand ihr derselbe Betrag zu.

Doch damit nicht genug: Sie überredete Zsolnay sogar, Mahlers 10. Sinfonie in einer Faksimileausgabe auf den Markt zu bringen. Dabei dachte sie nicht nur an die beiden Sätze, die Krenek überarbeitet hatte, sondern an das gesamte Werk. Für Ernst Krenek war dies zuviel des Guten: „Ich fand es jedoch äußerst geschmacklos, die Faksimiles der letzten drei Sätze zu publizieren, denn die Seiten waren über und über mit Randbemerkungen bedeckt, Ausbrüchen einer verzweifelten Leidenschaft, die an Alma gerichtet waren, wahnsinnigen Äußerungen eines Mannes, der mit dem Tode rang und dem kaum bewusst war, worauf er schrieb. Es war mir peinlich genug, diese Aufschreie einer gequälten Seele zu lesen, und mir graute bei dem Gedanken, dass sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten, während der Gegenstand dieser vertraulichen Monologe eines Genies noch lebte und bereit war, aus der Sensation, die so aus dem ordinären Beweggrund gewöhnlicher Habgier geschaffen worden war, Kapital zu schlagen.“

Moralische Einwände wie jene verpufften indes vor Almas Geschäftssinn: Die Editionen der Briefe und der 10. Sinfonie wurden für Mitte Oktober 1924 angekündigt.

Anna und Paul von Zsolnay im Kurhaus
Ende 1929 näherten sich die Familien Werfel und Zsolnay auch in privater Hinsicht aneinander an. Paul von Zsolnay gestand Alma bei einem Besuch, dass er ohne Anna nicht mehr leben könne, und bat sie förmlich um die Hand ihrer Tochter.

Anna Mahler Kurhaus Semmering Brief
     
Anna Mahler
 
Brief vom Kurhaus semmering an Paul von Zsolnay

Der Verleger hatte im Sommer im Semmeringer Kurhaus am Wolfsbergkogel, einer „Physikalisch-Diätetischen Höhen-Kuranstalt“, einen mehrwöchigen Urlaub verbracht und bei dieser Gelegenheit Anna Mahler nach langer Zeit zum ersten Mal wieder gesehen. Zwar kannten sich die beiden seit früher Jugend, man hatte sich jedoch aus den Augen verloren. Der Zufall wollte es, dass, wie Zsolnay sich erinnerte, „ich mit ihr einige Wochen gemeinsam am Semmering verbrachte. So hatten wir Gelegenheit, einander aufs Neue kennenzulernen und entschlossen uns sehr rasch, uns zu verbinden“.

Alma hatte gegenüber der Liebelei zwischen ihrer Tochter und dem Verleger Franz Werfels zunächst einige Vorbehalte. "Lass diese Blume am Wegrand stehen!" lautete ihr Ratschlag für Anna, die sie im Kurhaus einquartiert hatte, da sie an Gelbsucht erkrankt war. Und in ihren Memoiren schreibt sie: "Anna, die im vorigen Frühjahr krank aus Paris kam, wurde von mir auf den Semmering zur Erholung geschickt. Es traf sich, daß auch Paul von Zsolnay ins Semmeringer Kurhaus hinauffuhr. Später kam Zsolnay nach Wien und bat mich um Annas Hand. Der Vater Zsolnay wollte in diese Ehe um keinen Preis einwilligen. Es kam zu hässlichen Auftritten und Ehekontrakten, aber nun sitzt Anna brav, gefüllt mit Protest bis an den Rand, in ihrem schönen Schloss. Wenn sie nun endlich hier ein wirkliches Glück fände!"

Kurhaus Semmering
 
Das Kurhaus Semmering in den 1920er Jahren

Nach Rupert Koller und Ernst Krenek hatte Anna nun endlich einen Ehemann, der - wie Alma es empfand - standesgemäß war. Wenn Anna mit 25 Jahren schon zum dritten Mal heiraten würde, dann sollte es zumindest eine nützliche Verbindung sein. Die Hochzeit fand im kleinen Rahmen heimlich am 2. Dezember 1929 in Paris statt.

Gustav Mahler und der Semmering
Auf einer „Correspondenz-Karte" vom 22. Dezember 1897 lud Gustav Mahler seine Schwestern Justine und Emma zu einem Kurzurlaub auf den Semmering ein: „Hier ist es herrlich! Sehr kalt! Zieht Euch warm an und Galoschen und gestrickte Handschuh sind nötig. Zimmer für Euch ist reserviert." In welchem Hotel die Geschwister die Weihnachtstage verbrachten, geht aus der Karte nicht hervor; es könnte sich aber um das Südbahnhotel gehandelt haben.

Auf einer Ansichtskarte vom Südbahnhotel sandten Gustav und Justine Mahler Ihrer Schwester Emma am 15. Oktober 1898 Glückwünsche zum Geburtstag: „Wir erinnern uns, liebe Emma, hier Deiner, und Deines heuer nahenden Geburtstag[s] und senden Dir in die Ferne die herzlichsten Grüße, auch an Eduard."

Gustav Mahler kehrte auch während seiner Beziehung zu Alma 1902 immer wieder auf den Semmering zu kurzer Erholung zurück und schrieb seiner Verlobten von dort zwei Briefe:

Gustav Mahler an Alma, Semmering, 31. Januar 1902

   
Gustav Mahler (1903)  
   

Geliebte! Eben, zum Frühstück, erhalte ich Dein liebes Brieferl, das mir eine unnennbare Freude bereitet. Auch ich habe mit Schmerzen auf Deine ersten Worte gewartet. Nicht nur der Abschied, der ganze Abend war für mich unbefriedigend. Die Atmosphäre, die Strauss um sich verbreitet, ist so ernüchternd - man wird sich ordentlich selbst fremd. Wenn das die Früchte sind, die an einem Baum hängen – wie kann man den Baum lieben? Du hast mit Deiner Bemerkung über ihn in's Schwarze getroffen. Und ordentlich stolz bin ich darauf, daß Du so spontan das Richtige getroffen. Nicht wahr, lieber zusammen das Brod der Armut essen, und im Lichte wandeln, als sich so verlieren an das Gemeine! Kommen wird die Zeit, da die Menschen die Spreu vom Weizen gesondert erblicken werden und meine Zeit wird kommen, wenn die seine um ist. Könnte ich sie an Deiner Seite noch erleben! Aber Du, mein Lux wirst sie hoffentlich gewiß noch schauen, und dieser Tage gedenken, da Du die Sonne durch den Nebel erkannt hast - weißt Du, wie damals im Stadtpark, da sie allen nur ein roter garstiger Fleck geschienen. [hier wurden 4 ½ Zeilen im Manuskript unleserlich gemacht, Anm.] Jetzt will ich nur gesund werden, um ganz Dein sein zu können. Schon heute fühle ich mich nach einem gesunden, ruhigen Schlaf, wie neu gekräftigt. Vielleicht sehe ich Dich doch noch hier oben? – Samstag Nachmittag? Und Sonntag fahren wir dann zusammen nach Wien? Aber, wie Deine Mama es bestimmt! Zwinge sie zu nichts! Ich warte eben einen Tag länger und sehe Dich dann Sonntag Abends. Jetzt wird marschiert. Am Abend schreibe ich wieder. Geh, mein Almakind, schreibe einmal eine recht gewöhnliche, leserliche Adresse! Thu es für die armen Briefträger, die sich in Verzweiflung abmühen, Deine Kraxelfüsse zu entziffern. Ich hätte einen Riesenspaß darüber.
Deine Bemerkung vorgestern Abends: »du beteiligst dich gar nicht am Gespräch!«, wirst Du Dir jetzt selbst beantworten. – Was hätte ich auf diese Kafféhausredensarten zu erwidern, in einem so gesteigerten Moment, wie eine solche Aufführung, die schließlich auch meine productive Kraft auslöst und die einen frei machen sollte vom Alltag, nicht aber mitten in den Dreck hineinführen sollte, wie ein Gespräch über Tantièmen, und Kapitalien, (stets die Träume der Straussischen Phantasie – beinahe unzertrennbar von seinen Begeisterungen).
Sei tausendmal geküßt von mir – trotz Strasser! (Wiener Internist, der Mahler zu dieser Zeit behandelte, Anm.) (Wie ich eben durch ihn erfahren, besteht mein Leiden in einer erweiterten Vene durch wochenlangen Blutandrang in die Blutgefäße – analog meinem früheren Leiden). Aber keine Sorgen! Glücklicherweise habe ich es bei Zeiten bemerkt und will bald ganz gesund sein.
Dein Gustav

Der zweite Brief lässt erkennen, dass das Datum der Hochzeit mit Alma nun fixiert war und dass sich die Hochzeitsreise nach St. Petersburg unmittelbar anschließen sollte. Mahler war dort im März 1902 zu Konzerten eingeladen.

Gustav Mahler an Alma, Semmering. 1. Februar 1902
Almschie, Liebste! Eben komme ich vom Bahnhof, wo ich Dich doch so halb und halb erwartet habe. Es schneit lustig und Alles ist in Weiß gehüllt das würde Dir sicher ebenso gefallen wie mir. Ich bin ganz aus dem Häusel vor Entzücken - aber Du fehlst mir dabei. Überall glaube ich Dein Köpfel auftauchen zu sehen. Mir ist eine gloriose Idee gekommen: Ich komme Montag zu Tisch hinaus zu Euch! Und zwar so bald als möglich. Ich hoffe um 1 schon draußen zu sein, damit wir noch einen kleinen Bummel machen können. Dann bleibe ich bis ¾ 6 - Du geleitest mich bis Zögernitz und von dort fahre ich mit der elektrischen in's Theater um die fade Vorstellung zu dirigieren. Ist's so recht? Wir haben da doch mehr von einander als bei uns. Ich fühle mich so frisch und gesund, wie je! Ich habe es gewußt, da droben geht es mir immer gleich ganz gut. Also am 10. März, Almschi, hoffentlich dampfen wir ab! Dieser Schnee hier hat mir ordentlich Appetit auf Petersburg gemacht. Und wie es Dir gefallen wird! Das ist mir das Liebste daran! Lux! Sehnst Du Dich ein bissel nach mir? Ich kann es schon kaum erwarten und ich bleibe wirklich nur aus »Gesundheitsrücksichten« hier oben, weil ich merke, wie es mir ins Blut und in die Nerven geht! Almschi! Hast mich noch lieb?
Immer Dein Gustav.