Geburt Wilhelm II

Im Brief vom 29. Januar 1859 an die Schwiegereltern in England beschreibt der junge Ehemann Fritz, dessen Anwesenheit bei der Geburt für die damalige Zeit höchst ungewöhnlich war, die Situation im Kronprinzenpalais, als die Geburtswehen bei seiner gerade achtzehnjährigen Frau einsetzten: «Nachdem Vicky bereits die letzten Tage vor dem 27. Schmerzen ungewohnter Art empfunden hatte, die uns mehrmalige falsche Alarmierungen brachten, empfand sie kurz vor Mitternacht in der Nacht vom 26. zum 27. heftige Schmerzen und bald auch Feuchtigkeit, so daß ich die Mrs. Innocent herbeirief, die alsbald zwar den Beginn mir leise mittheilte, jedoch Vicky rieth noch zu versuchen schlafen zu können; dies ging nicht mehr, da Obiges sich bald wiederholte, und nun Sir James informiert und zu Wegner wie Gfin. Blücher geschickt ward. Vicky zog sich warm an doch in Schlumpes, und ging mehrere Stunden auf und ab, bald, wenn die Schmerzen kamen, sich an uns oder an den Tisch krampfhaft haltend, und von Gfin. Perponcher, Blücher und mir unterstützt. Etwa um 2:30 Uhr Nachts begab ich mich zu den Eltern ihnen den Beginn mitzutheilen, dann begab sich Vicky ins Schlaf-Zimmer, das mittlerweile zur großen Entscheidung vorbereitet worden war, und verging dann die Nacht abwechselnd auf der chaise longue oder gehend. Allmälig nahmen die Schmerzen zu, und waren mit Tagesanbruch schon nicht mehr gering; etwa um 9Uhr legte sie sich zu Bett, gerade an der Stelle wo Papa geboren ward, und war es einige Zeit nachher, daß Dr. Wegner durch zufällige Untersuchung entdeckte, daß die Lage nicht die normalmaßigste war.» Bei dieser «zufälligen» Entdeckung wurde nun in aller Eile nach Professor Martin geschickt. Durch einen Glücksfall traf der Lakai den Professor auf der Straße vor seiner Dienstwohnung in der Dorotheenstraße an, als dieser im Begriff war, zu einem gynäkologischen Vortrag in die Charité zu fahren. Der Lakai stürzte herbei mit der Frage, «ob der Herr Professor nicht kommen wolle?!» Im gleichen Moment wurde dem Frauenarzt mit den sonstigen Posteingängen ein blauer Brief überreicht, der um 8 Uhr mit der Morgen-Post eingetroffen war: Er enthielt die am Vorabend abgesandte Aufforderung des Prinzen Friedrich Wilhelm, Martin möge unverzüglich zu seiner Frau ins Palais kommen, da die Geburt wohl bald zu erwarten sei. Man muß hier fragen, was geschehen wäre, wenn der Prinz, anstatt die gewöhnliche Stadtpost zu gebrauchen, am 26. Januar abends einen Dienstboten zu Martin geschickt hätte. Dieser wäre dann vor dem Beginn der Geburtswehen eingetroffen und hätte sicherlich viel früher als Wegner die Steißlage - denn um eine solche handelte es sich - des Kindes festgestellt. Er hätte aber auch dann wenig ausrichten können. Eine äußere Wendung auf den Kopf - d. h. eine Wendung des Kindes durch Druck von außen, um es in die normale Lage zu bringen - gelingt in den letzten vier Wochen der Schwangerschaft nur selten und schon gar nicht, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Beine des Kindes über seiner Brust emporgeschlagen sind. Martin kam jedoch erst vier bis fünf Stunden nach dem Abgang des Fruchtwassers an, und eine Wendung nach dem Sprung der Fruchtblase ist unmöglich.

Martins «Bericht über die Entbindung Ihrer Königlichen Hoheit der Frau Prinzessin Friedrich Wilhelm Princess royal von Großbritannien» ist zwar erst am 9. Februar 1859 geschrieben worden, er dürfte aber zuverlässig sein: Erstens schrieb ihn der Arzt auf der Grundlage seiner Tagebuchaufzeichnungen, zweitens spielte sich der darin geschilderte Vorgang vor drei sachverständigen Zeugen ab - vor Clark, Wegner und Schoenlein. Laut diesem Bericht wurde Martin um zehn Uhr ins Palais gerufen. Er schreibt: «Ich fand um 10 ? Uhr den Muttermund gegen 1? Zoll im Durchmesser erweitert, jedoch gespannt, darin den rechten Hinterbacken der Frucht, den After nach links und hinten. Da die Wehen sehr schmerzhaft und doch wenig wirksam waren, also eine krampfhafte Wehenstörung vorlag wurde der hohen Kreissenden gegen 11 Uhr eine gran Ipekacuanha gereicht. Nachdem hierauf einmaliges Erbrechen erfolgt war erschienen die Wehen etwas gebessert, jedoch noch sehr empfindlich; deßhalb empfahl ich mäßige Chloroform-Inhalationen, welche auch die hohe Erregung der Frau Prinzessin bald milderten. Dennoch klagte Ihre Königliche Hoheit so oft als die mäßige Betäubung nachließ, über ungewöhnliche heftige Schmerzen.»

Die starken Schmerzen der jungen Mutter werden eindrucksvoll von ihrem Ehemann geschildert. Nachdem Martin die Prinzessin untersucht hatte, bat ihn Fritz um rücksichtslose Aufklärung darüber, was zu erwarten sei. Martin erklärte, daß für Victoria keine eigentliche Gefahr vorhanden sei, wohl aber für das Kind. Fritz habe die Ärzte angewiesen, «daß nur an die Mutter zu denken sei, erhielt jedoch den Bescheid, daß es Ärztliches Trachten sei, Mutter und Kind zu erhalten». So bereitete sich der Prinz darauf vor, «ein todes Kind zur Welt kommen zu sehen». Eindringlich beschreibt er den jammervollen Zustand der Mutter, die von der Gefahr für ihr Baby nichts ahnte:

«Immer heftiger wurden die Schmerzen und das entsetzliche Schreien und Jammern Vicky´s, die jedoch stets wenn eine Pause eintrat, Alle um Verzeihung bat, daß sie so schrie oder Ungeduld zu zeigen schiene, allein sie könne nicht anders. Als nun die eigentlichen Stoß-Wehen begannen hatte ich mit aller Gewalt mich anzustrengen ihren Kopf so zu halten, daß der Hals sich nicht zu sehr ausdehnte wobei es bei jeder Wehe förmlich Kämpfe zwischen mir und ihr gab, so daß ich noch heute [29. Januar] meine Arme ganz erlahmt fühle. Zur Vermeidung des Zähneknirschens und Beissens steckten wir ihr stets ein Schnupftuch in den Mund; zuweilen mußte ich ihr mit aller Gewalt die Finger aus dem Mund reissen, und hielt ihr auch die Meinigen in den Mund. Mit Riesenstärke stieß sie zuweilen 2 Personen von sich, und so steigerten sich die entsetzlichen Qualen bis die Entscheidung so nahe war, daß nun völlige Betäubung mit Chloroform vorgenommen ward. Vicky wurde nun quer ins Bett gelegt; ein entsetzlicher langer Schrei, und nun ward sie betäubt.»

Alle anwesenden Ärzte waren mit der Anwendung von Chloroform einverstanden, der, wie Augusta schrieb, vor allem Martin sehr zuneigte. Auch Clark befürwortete die Verabreichung, obwohl ihm die Gefahren nicht unbekannt waren. In seinem Bericht teilte er der Queen mit, daß ihm die bescheidene Aufgabe zugefallen sei, die Chloroformierung vorzunehmen. Wiederholt betonte er, wie sehr das Betäubungsmittel der Prinzessin geholfen habe, indem es ihre Schmerzen linderte und ihr ab und zu sogar etwas erfrischenden Schlaf ermöglichte.

Der Bericht Martins macht deutlich, daß der Mutter in der letzten kritischen Phase der Geburt außer Chloroform und Ipekacuanha noch eine weitere Substanz gereicht wurde. Da die Preßwehen nicht stark genug gewesen seien, schreibt er, habe er der Prinzessin gegen zwei Uhr mittags Secale cornutum (auch Ergot oder Mutterkorn genannt) gegeben, «wie ich solches unter gleichen Verhältnissen mit dem besten Erfolg stets gethan habe». Das Mittel sei «zu 10 gran 3 Mal» gereicht worden und habe auch den gewünschten Effekt erzielt, daß nämlich die Wehen nicht mehr so häufig und quälend, «aber desto kräftiger und austreibend» kamen.

In einer durch Chloroform herbeigeführten Vollnarkose gebar nun die Prinzessin ihr Kind. Der nach dreizehnstündiger Anstrengung völlig erschöpfte Prinz Friedrich Wilhelm schildert, wie er «Dr. Martin unter dem Flannell-Rock mit aller Kraft arbeiten sah». Wie schwer und gefährlich dieser Eingriff in der letzten Phase der Geburt war, geht aus Martins eigenem Bericht hervor:

«So kam der Steiß um 2 ? Uhr Nachmittag aus den Geschlechtstheilen heraus, die Beine des Prinzen vor dessen Bauch und Brust emporgeschlagen. Als ich jetzt die Nabelschnur nur noch schwach und verlangsamt, ja aussetzend klopfen fühlte, wurde zur Sicherung der nunmehr nöthig gewordenen Operation eine stärkere Chloroformnarkose und damit die unerläßliche vollkommene Ruhe und Fühllosigkeit der hohen Kreissenden erzielt. Die emporgeschlagenen Beine des Prinzen hob ich vorsichtig heraus, und führte da sein Leben ernstlich bedroht war, sofort den nach hinten neben dem Kopf emporgestreckten [linken] Arm kunstmäßig obschon, wie bei den engen Geburtswegen erklärlich, nicht ohne erhebliche Anstrengung herab, drehte mittels desselben nach den erprobten Regeln der Kunst den Rumpf des Kindes und löste sodann den ebenfalls emporgeschlagenen rechten Arm und endlich den Kopf, indem ich nach Smellies weiser Regel das Gesicht nach hinten gegen die Kreuzbeinaushölung drehte und vorsichtig zu Tage förderte. Der Prinz war, wie der Nachlaß des Pulses in der Nabelschnur schon während der Steiß allein hervorgetrieben war, bekundet hatte im hohen Grade scheintodt, athmete aber nach den gewöhnlichen Belebungsmitteln bereits, bevor ich ihn zu dem bereitgehaltenen Bad brachte, und schlug die Augen auf.»

Auffallend ist, daß Martin in seinem sonst so exakten Bericht so gut wie nichts über den Zustand des Kindes mitteilt. Er hat sich, wie alle anderen Anwesenden, zunächst um die ohnmächtige Kronprinzessin gekümmert. Es war Fräulein Stahl, welche nach einiger Zeit mit Schrecken bemerkte, daß das Kind noch nicht einen Schrei von sich gegeben hatte. Sofort dachte sie, es sei totgeboren. Mit Martin zusammen arbeitete sie «an dem Neugeborenen herum, alle Mittel anwendend, die in medizinischen Büchern stehen oder von Hebammen angewendet werden, um das Kind zum Leben zu bringen». Wie sie sich später erinnerte, nahm sie schließlich «das junge Königskind unter meinen linken Arm» und, «ein nasses Handtuch in meiner rechten Hand zusammenfassend, fing ich an, ihn nach heimischer Sitte zu bearbeiten, obwohl die Ärzte murrten, und Jeder, der im Zimmer war, sich entsetzte». Sie hielt sich, da es um Leben und Tod ging, nicht an die Hofetikette, sondern schlug weiter zu, «bald sanfter, bald stärker, klapp, klapp, klapp», bis schließlich «zuletzt ein schwacher Schrei von den bleichen Lippen des Kindes kam». Sie hatte den Prinzen «vom Grabe gerettet, für das er bestimmt war», schrieb sie voller Stolz.

Diese nachträgliche Schilderung der Hebamme Stahl wird von den zeitgenössischen Quellen weitgehend bestätigt. Aus dem Brief Wegners an Queen Victoria erfahren wir, daß das Baby «bereits asphyctisch» war, als es endlich zur Welt kam. Fritz beschreibt, wie er, als er keinen Schrei von dem Neugeborenen vernahm, «halb bewußtlos» neben Vicky, die er stets im Arm hielt, hinsank. Die schlimmsten Befürchtungen des Vaters schienen durch den Tonfall Martins bestätigt, als dieser sagte, «es ist ein Prinz». Fritz schloß aus seiner Stimme, «daß es ein Bedauern war, daß dies noch außerdem hinzukäme», bis er auf einmal den Kleinen im Nebenzimmer schreien hörte. Fritz fährt fort:

«Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr mich´s; Martin sagte ich möchte doch hin, Gfin Perponcher nahm Vicky in den Arm, und nun wankte ich halb bewußtlos in´s Nebenzimmer wo der Kleine im Bade war, und fiel ich zuerst Mama in die Arme, und dann sank ich auf die Kniee. Wiederum schrie der Kleine, als er einige gewisse Schläge erhielt, und Alles rief, es sei vortrefflich, und man versicherte mich er könne leben!» Nach den Schilderungen der Prinzessin Augusta glaubten zunächst auch alle im Nebenzimmer Wartenden, das Kind sei gestorben, als es «leblos», «beweglos und lautlos» in einem weißen Leinentuch hereingebracht wurde. Erst nach einigen belebenden Maßnahmen sei dann der erste Schrei ertönt - «der glücklichste, den man im Leben hören kann, worauf jemand rief, «es lebt und ist ein Prinz!»